Unica Zürn - Schön sein im Tod
/ Die Welt

Sie tut es ganz still und entschlossen, als hätte sie ihr ganzes Leben auf diesen Moment hingelebt. Am 19. Oktober 1970, nach einer Nacht ruhiger Gespräche mit ihrem Lebensgefährten Hans Bellmer, die ihre endgültige Trennung besiegeln, springt Unica Zürn aus dem Fenster ihrer gemeinsamen Wohnung in den Tod. Die Frau, die dem Künstler 1953 aus ihrem geliebten Berlin nach Paris gefolgt war, die Max Ernst die „größte deutsche Dichterin der Gegenwart“ nannte und der Henri Michaux Stifte und Zeichenblock in die Nervenklinik brachte, wo sie ihre Halluzinationen in atemberaubende Zeichnungen und Gouachen verwandelte – diese Frau hat poetischer gelebt und besser gezeichnet als jeder andere im Pariser Surrealistenzirkel um Hans Arp, André Breton, Marcel Duchamp, Meret Oppenheim, Matta und Man Ray. Sie war die Schweigsame mit der ewigen Gauloise, die sich immer mehr zurückzog und in Bellmer einen, wie sie notierte, „Kameraden im Elend“ gefunden hatte. Er war von Depressionen geplagt wie sie – mit dem Unterschied, dass ihren Tiefs Wahnvisionen vorausgingen, die sie in vollen Zügen genoss. Sie inspirierten sie 1962 zu dem Roman Der Mann im Jasmin – Eindrücke aus einer Geisteskrankheit: ein poetisches Protokoll, das in seiner seltsamen, bildhaften Intensität alles übersteigt, was die Surrealisten versuchen, künstlich in Szene zu setzen. Wo sie das Irrationale feiern, um gegen die Vernunft der modernen Welt zu rebellieren, zeigt Unica Zürn, wozu das Unbewusste in einer wie ihr fähig ist. Ihre arabeskenhaften Traumwesen entstehen in real erlebten Trance-Zuständen und werden zu Bildern, die in der Kunstgeschichte ihresgleichen suchen. Es sind Geisterwesen, mal schattenhaft hingehaucht, mal klar konturiert, hochgradig bezaubernd und verstörend zugleich – Bildnisse einer verwundeten Seele, deren Kindheit ohne Liebe war und deren Kinder man ihr wegnahm, als sie sich von ihrem untreuen Ehemann scheiden ließ. Im Grunde ist jedes Werk ein Selbstportrait, das von Einsamkeit und von einer überbordenden Vorstellungswelt jenseits aller Erklärungen erzählt. Doch Unica Zürns Wahnvisionen sind Segen und Fluch zugleich. Es ist wie mit ihrer Beziehung zu Bellmer: Es geht nicht mit ihm und nicht ohne ihn. Ein Jahr vor ihrem Tod nimmt sie ihr Ende in der tieftraurigen, sehnsüchtig-sexuellen, autobiografisch durchtränkten Kindheitsgeschichte Dunkler Frühling vorweg: „Sie möchte schön aussehen, wenn sie tot ist. Sie möchte, dass man sie bewundert: Nie hat man ein schöneres totes Kind gesehen. Jetzt ist es fast dunkel im Zimmer. Nur das ferne Licht einer Straßenlaterne scheint schwach ins Fenster. Jetzt ist es ihr gleich, ob sie ‚auf fremder Erde‘ stirbt oder in ihrem Garten. Sie steigt auf das Fensterbrett, hält sich an der Schnur des Fensterladens fest und betrachtet noch einmal ihr schattenhaftes Bild im Spiegel. Sie findet sich reizend und eine Spur von Bedauern mischt sich in ihre Entschlossenheit. ‚Vorbei‘, sagt sie leise und fühlt sich schon tot, ehe sie mit ihren Füßen das Fensterbrett verlässt. Sie fällt auf den Kopf und bricht sich den Hals. Der erste, der sie findet, ist der Hund. Er steckt den Kopf Zwischen ihre Beine und beginnt sie zu lecken. Als sie sich gar nicht bewegt, beginnt er leise zu winseln und legt sich neben sie ins Gras.“ Mit 54 Jahren setzt Unica Zürn ihre Fantasie in die Tat um.

 

Doch beginnen wir am Anfang. Unica Zürn wird am 6. Juli 1916 in Berlin-Grunewald geboren. Als Kind – so erzählt sie ihrer Freundin, französischen Übersetzerin und späteren Biografin Ruth Henry – liebt sie die fremdartigen Dinge, die sie in dem großen Haus umgeben, vor allem den indischen Buddha, den goldbestickten chinesischen Teppich und die arabischen Möbel, die ihr Vater, ein Schriftsteller, von seinen Reisen mitgebracht hat – eine gewisse orientalische Ästhetik wird später in ihre Zeichnungen einfließen, so wie das Haus der Kindheit als Fixpunkt ihrer Halluzinationen und Texte immer wieder auftaucht. Sie idealisiert den abwesenden Vater und fühlt sich von der Kälte der Mutter isoliert. Von den Kriegsjahren bleibt sie seltsam unbehelligt. Sie arbeitet bei der UFA im Archiv, beim Schnitt und in der Dramaturgie. 1942 heiratet sie einen Mann, den sie liebt und bekommt zwei Kinder. „Dass sie eine hingebungsvolle, zärtliche, vor allem heitere Mutter war, ein spielendes Kind mit ihren Kindern, steht außer Frage. Die frühen Jahre der Kinder fand sie zauberhaft, ‚wenn sie Worterfindungen machen und einen ständig im schönen Schweben halten‘“, zitiert Ruth Henry sie. Später wird Unica Zürn sich als „altes Kind“ bezeichnen – und man muss nur ihre Leidenschaft für Anagramme betrachten, die sie 1954 in dem gespenstisch-betörenden Buch Hexentexte auch ihren Zeichnungen zur Seite stellt, um zu sehen, wie obsessiv-spielerisch ihr Denken und Empfinden ist. 1949 lässt sie sich scheiden, sie hält die Untreue nicht mehr aus. Das Gericht spricht die Kinder dem Vater zu – Unica Zürn nimmt es hin, kämpfen kann sie nicht, alleine wie sie nun ist. Fortan sieht sie die Kinder einmal im Monat. Sie beginnt, Kurzgeschichten zu schreiben, die sie in Tageszeitungen veröffentlicht, und findet Freunde in Künstlerkreisen. Für kurze Zeit hat sie eine Beziehung mit dem Maler Alexander Camaro. Doch dann trifft sie 1953, bei einer Ausstellungseröffnung, den Mann, der ihr Leben verändert. Hans Bellmer ist der „Mann mit der Puppe“, dessen surreale, sexuell aufgeladene Fotografien ihm damals noch keinen Ruhm einbringen. Er ist hingerissen von Unica Zürns aufrechter, aparter Erscheinung, und er verliebt sich sofort in ihre Ponyfransen. Ob sie ahnt, dass sie bald selbst eine von Künstlern bewunderte Künstlerin, aber vor allem die „Frau von Bellmer“ sein wird, wie sie später mit krakeliger Schrift ihr Manuskript von Der Mann im Jasmin signiert? Ohne zu zögern folgt sie ihm nach Paris. Fortan sind beide unzertrennlich, ein couple maudit, ko-abhängig gehen sie durch alle Höhen und Tiefen bis in den Tod.

 

Anders als in Deutschland, wo damals die Nachkriegsfrage nach Abstraktion oder Figuration die Gemüter erhitzt, sind in Paris die Surrealisten aktiv. Doch ihr Stern sinkt, als Unica Zürn zu ihnen stößt. Fluxus und Pop Art werden ihnen bald die Szene streitig machen, womit traumartige, psychologisch aufgeladene Kunst bald Geschichte ist. Doch genau diese düstere Romantik wird Unica Zürns Leben und Werk von nun an prägen – ein Werk, das weit vielfältiger und zerbrechlicher ist als das von Bellmer, das von einer zerrissenen Seele erzählt aber in sich absolut stimmig ist. „Man könnte sagen, dass das ganze Werk von Unica Zürn von einem dunklen Beben und visionären Erscheinungen durchzogen ist“, schreibt der Schriftsteller und Kunsthistoriker Patrick Waldberg. „Nimmt man die ‚automatischen Zeichnungen‘, die André Masson von 1924 bis 1929 gemacht hat, so hat keiner die Spontaneität des Ausdrucks, welche die Surrealisten anstrebten, so erreicht wie sie in ihrer Grafik.“

 

Die Anfänge in Paris, in Bellmers Apartment in der Rue Mouffetard, sind nicht leicht. Armut und Alleinsein bestimmen den Alltag. Dennoch ist Unica Zürn von ihrem neuen Umfeld inspiriert. Es sind ihre ersten Schritte als Künstlerin, auch wenn sie sofort in ihrer Bildsprache zu Hause ist. Berlin scheint ewig weit weg – und ist doch immer in ihr, mit allem, was sie nicht verarbeitet hat und was an der Seite von Bellmer nicht gelöst werden kann. Sie ahnt, was kommen wird und begibt sich sehenden Auges hinein. „Sehr, sehr langsam beginnt sie von diesem Tage an, ihren Verstand zu verlieren,“ schreibt sie rückblickend in Der Mann im Jasmin und meint mit der dritten Person immer sich selbst. Das Buch zeigt aufs Eindrücklichste, was ihr Geist hervorzubringen vermag. Es liest sich wie Bildbeschreibungen ihrer Werke, wie Fußnoten, die erklären, wie ihre außerweltlichen Erscheinungen auf Papier kommen. „Diese Wesen, anders kann sie sie nicht nennen, zeigen die deutliche und beängstigende Absicht, sie einzukreisen. Es geht etwas Auflösendes, etwas Vernichtendes von ihnen aus, und sie empfindet die vergessene Angst ihrer Kindheit vor dem Grausigen und Unerklärlichen wieder, wenn diese schwarzen Flügel ohne Vögel zu dicht an sie heranfliegen.“ Und doch sind die Wesen ihre Freunde. Ohne ihre Visionen wäre Unica Zürn nicht diese Künstlerin, hätte kein Ventil für das, womit sie ringt. Und so schreibt sie weiter: „Genau betrachtet, haben diese Wesen nichts Schreckliches an sich – es fehlen ihnen die Augen, die Gesichter, und es geht eine große Würde, ein unheimlicher Ernst, etwas sehr Nobles von ihnen aus. Wenn jemand ihr gesagt hätte, dass es notwendig ist, verrückt zu werden, besonders, um diese letzte Halluzination zu sehen, so wäre sie gerne verrückt geworden.“

 

Das Verrücktwerden ist es, was auch der Maler Henri Michaux 1966 in seinem Buch Die großen Zerreißproben zelebriert. „Die Verwirrungen des Geistes und sein Nichtfunktionieren“ nennt er seine Lehrmeister, spricht von einer „Intelligenz der Freiheit“ im Kontrast zum „‘gegängelten‘ Verstand“, ohne dass er je davon betroffen ist, weshalb er versucht, mit Drogen in die Nähe solcher Erfahrungen zu kommen. Michaux ist, ohne es zu wissen, die Schüsselfigur in Unica Zürns Roman. Der Mann im Jasmin ist eine Kindheitsfantasie, ein weißer, reiner Partner, der ihr nichts tut, der sie rettet und zugleich gelähmt ist, also nicht weglaufen kann. Als Unica Zürn Michaux kennenlernt, der dem Mann aus ihrer Vision zum Verwechseln ähnlichsieht, werden die Initialen H.M. zu ihrer ständigen Begleitung. Einmal bezieht sie ein Hotel, einfach nur, weil es Hôtel Minerva heißt, dann entdeckt sie Hermann Melville für sich. Unica Zürn ist besessen von solchen Spielen, in denen sie geheime Botschaften aufspürt. Genauso ist es mit den Anagrammen – Worte und Sätze, die nur durch das Umstellen ihrer eigenen Buchstaben entstanden sind. „Die ‚Lust‘, die Unica Zürn beim Zeichnen, ‚beim allerersten Federstrich‘ empfindet, ‚wenn man noch nicht weiß, was auf dem weißen Papier entsteht‘ – sie kommt für sie nur noch einer anderen gleich, in der sie Bellmer unterwies: dem Anagramm-Dichten“, heißt es in der Biografie. Als sie im Nachnamen vom Max Ernst plötzlich das Wort „Stern“ entdeckt, bricht sie in Jubel aus. Dann wiederum würfelt sie aus der Zeile „Der Tod ist die Sehnsucht meines Lebens“ ein Buchstabengedicht. Dass das Spiel vor allem eine Obsession war, der sie sich tagelang rasend, bis zum Zusammenbruch hingeben konnte, zeigt, wie eng bei ihr die konzentrierte Stille, der Flow des Kunstmachens an den Realitätsverlust heranreichte. Aufenthalte in Nervenkliniken – unter anderem in Saint-Anne, der größten von Paris, und in Berlin-Wittenau, bei dem Versuch, in ihre Heimatstadt zurückzukehren – bieten ihr vorübergehend Schutz, auch weil sie so Abstand von Bellmer bekommt. Zugleich erschrickt sie vor dem, was sie sieht: Eine ältere Patientin, ans Bett gebunden, gibt sich hemmungslos ihrem erotischen Delirium hin. Unica Zürn selbst wird mit Medikamenten ruhiggestellt, und doch weiß sie, dass Heilung für sie unmöglich ist. In anderen Phasen blüht sie auf, tanzt, lässt sich die Zähne richten und ignoriert die Hinweise in Bellmers Briefen, dass eine Trennung nun unumgänglich sei. Als Michaux sie in Saint-Anne besucht, schreibt er ihr eine Widmung in das Zeichenheft, das er ihr mitbringt. „Hefte aus weißen unberührten Weiten / Seh darin Verzweifelte / besser als die anderen / im Schweigen schwimmen und / abseits hingestreckt / wieder zum Leben kommen können“. Doch es ist zu spät. Notizen zur letzten (?) Krise, notiert sie über einen Text – das Fragezeichen ist mehr als eine Vorahnung.

 

So still und leise, wie Unica Zürn stirbt, so sind auch die Reaktionen auf ihren Tod. Keine fulminante Würdigung der Presse über die Frau in Bellmers Schatten, kein feministischer Aufschrei, keine Museumsausstellungen, kein Markt, der sich um ihr Werk kümmert. Ihre erste posthume Schau findet ganze 28 Jahre später in dem kleinen Berliner Verein Neue Gesellschaft für Bildende Kunst statt. Erst 2006 zeigt die Halle Saint-Pierre in Paris eine große Retrospektive, ein Museum für Art Brut und Outsider Art. Es ist dieses Korsett, in das Unica Zürn nun gezwängt wird – zu Unrecht. Als sie 2005 die New Yorker Ubu Gallery ins Programm aufnimmt, widmet ihr immerhin das dortige Drawing Center eine große Schau. Doch jetzt, im 50. Jahr nach ihrem Tod, ist es nicht etwa das Museum of Modern Art, das diese Ausnahmekünstlerin endlich einem großen Publikum nahebringt, sondern das Musée d’Art d’Histoire de l’Hôpital Sainte-Anne zeigt, wer die frühere Patientin war. Doch deren Werk lässt sich nicht einfach mit der Arbeit von Hausmeistern, Farmern und Puppenbauern vergleichen, die im Verborgenen ihre Paralleluniversen aufbauen und die der Kunstmarkt seit einigen Jahren feiert. An Unica Zürn zeigt sich, wie wenig der Begriff „Outsider Art“ trägt. Sie mag neurotisch, wahnhaft und depressiv gewesen sein, doch das war Van Gogh auch. Kaum jemand aber kennt Unica Zürn.

 

„Für den ‚Fall‘ Unica darf man annehmen, dass ihr früh poetisch reagierender (aber auch extrem labiler) Geist an der totalen mythischen Verarmung unserer Gegenwart erkrankt ist, zumal sich die Instinktlosigkeit der Eltern doppelt schwer auf ihre Kindheit legte“, schreibt Ruth Henry. Von da rühre auch das – wie es Sylvia Plath genannt hat – „abwehrende Verharren ‚unter der Glasglocke der Infantilität‘, das allerdings in Unicas Leben keinen sterilen weiblichen Egoismus, sondern eine anmutig-rebellierende Schöpferkraft hervorrief.“ Unica Zürns Werk erzählt von viel mehr als von den Eindrücken einer Geisteskrankheit. In seiner flirrenden, zerrissenen Sensibilität und ungebändigten Fantasie, aber auch in seiner herausragenden zeichnerischen Qualität passt es weder in eine naive noch in irgendeine andere Schublade der modernen Kunst. Ihre Bilder sind formgewordene Poesie, die vor fünfzig genauso gut wie vor hundertfünfzig Jahren hätte entstehen können. Kein Strich ist ausgebessert, so präzise bringt Unica Zürns Hingabe an ihre Innenwelt filigranste Kompositionen hervor – Abbilder eines gesteigerten Lebens, das im Pragmatismus der Gegenwart keinen Halt fand.